Lubomyr Melnyk:
Lubomyr Melnyk: Illirion
(2016, Sony Music 88985315582 )
Als 2013/15 bei Erased Tapes zwischen jungen Kollegen wie Ólafur Arnalds und Nils Frahm zwei Alben mit Lubomyr Melnyks Musik erschienen, dachten nicht wenige, es handle sich bei dem unbekannten Pianisten um einen Newcomer der »Modern Composition«. Kaum jemand hatte den Namen des Kosmopoliten zuvor gehört. Dabei wurde er bereits 1948 geboren und hat seit den Siebzigern kontinuierlich LPs und CDs aufgenommen. Da Sony Classical das Major-Debüt des 67-Jährigen (wohl erstmals) mit einem Porträt des Künstlers präsentiert, wird der Name Lubomyr Melnyk nun bis auf weiteres kein Mysterium mehr sein.
Doch wer nun ist Lubomyr Melnyk, und was hat er mit »Nordischer Musik« zu tun? In München in eine ukrainische Flüchtlingsfamilie geboren, stand er bereits von Geburt an zwischen den Kulturen, doch er blieb nicht lange mitten in Europa, sondern wuchs im recht abgelegenen kanadischen Winnipeg auf, bevor er nach dem Philosophiestudium als 25-jähriger wiederum nach Paris ging, um sich dort in der Musik- und Tanzszene einen Namen zu machen. Dort hatte er kein Geld, aber viel Fantasie, und so kam es, dass er Mitte der Siebziger seinen eigenen Stil entwickelte, den man im Prinzip als eine eigene Stilrichtung bezeichnen kann: »continuous music«. Melnyk sagt dazu: »Es ist eher eine Sprache als ein Stil, es ist die Sprache des Instruments selbst.« Aus der Verbindung von Haydn mit Terry Riley heraus beschleunigte er sein Spiel, als würde er »ununterbrochene Klangwellen auszusenden.« In der Überlagerung dieser Wellen – Melnyk spielt bis zu 19 Anschläge per Hand in der Sekunde – erzeugt er einen Zustand, den er mit Metaphysik und Meditation umschreibt. »Es ist eine transzendente Erfahrung, als wäre das Klavier eine Erweiterung meines Körpers, ein Teil meiner Seele.«
Auch wenn dies recht esoterisch klingt, seine Musik ist sehr greifbar, sehr einfach und eingängig. In den letzten vierzig Jahren – da lebte er vorrangig im Wald in Schweden, jedoch immer wieder auch in Stockholm und Toronto – komponierte Melnyk fast hundert Werke, in erster Linie für Klavier, aber auch für Ensembles bis zur Orchestergröße. Als »neominimalistisch« und »neoromantisch« ließe sich sein Werk umschreiben, doch auch wenn er ein bisschen wie Arvo Pärt aussieht (bzw. wie der Wanderprediger Rasputin), die fünf Stücke dieser CD kann man sich am ehesten wie eine Kreuzung aus Ludovico Einaudi und Terry Riley vorstellen. Ein wenig melancholisch (»Beyond Romance«, »Sunset«) und friedfertig (»Solitude No.1«), zugleich jedoch konstant chaotisch. Der von »dear friend and devoted fan« Charles Bettle verfasste, arg überschwängliche Text im Beiheft ist lesenswert, jedoch auch ungewöhnlich subjektiv für eine CD bei Sony Classical. Doch das passt zur Musik. Die nimmt einen sofort mit, ob man will oder nicht. Ob Lubomyr Melnyk, »der Prophet des Pianos« tatsächlich das Klavierspiel neu erfunden hat? Wer weiß... (ijb)
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