Air – Bent Sørensen / Hans Abrahamsen
(2016, ECM/Universal ECM New Series 2496)
In der gegenwärtigen Musikwelt, zumindest in Europa, gibt (wenn überhaupt) wenige Akkordeonisten vom Format Frode Haltlis. Der Norweger, der seit langem mit der Avantgarde-Komponistin und freigeistigen Noise-Musikerin Maja S. K. Ratkje nahe Oslo zusammen lebt und hin und wieder auch mit ihr gemeinsam spielt, ist seit vielen Jahren international für eine große stilistische Spannweite bekannt, von traditioneller skandinavischer Musik über zahlreiche Jazzalben (einige gemeinsame Projekte mit Saxofonist Trygve Seim erschienen bei ECM) in die Pop- und Chanson-Musik hinein. Doch besonders seit seinem ECM-Debüt »LOOKING ON DARKNESS« (2002), das ihn als Solist mit Werken von Sørensen, Schaathun, Lindberg, Lindborg und Ratkje präsentierte, ist er eine feste Größe in der europäischen Neuen Musik. Regelmäßig ist er mit neuen Werken zeitgenössischer Komponisten zu erleben, als Solist oder im Avantgarde-Trio Poing, das häufiger Uraufführungen und Ersteinspielungen präsentiert.
Sowohl das Arditti Quartett als auch die Trondheim Soloists sind ebenfalls seit langem renommierte Interpreten der klassischen und Neuen Musik. So ist diese gemeinsame CD eine sichere Bank in jeder Hinsicht. Selbst wenn Ihnen die beiden dänischen Komponisten nicht vertraut sind – Bent Sørensen wurde von Nordische Musik schon häufiger empfohlen, und Hans Abrahamsen ist durch Musikpreise und einige Projekte, z.B. bei Winter & Winter in den letzten Jahren auch hierzulande langsam, aber sicher ein Begriff – mit diesem intensiven Programm können Sie skandinavische zeitgenössische Musik so konzentriert und innovativ erleben wie selten.
Die Dramaturgie geht vom Großen zum Kleinen, beginnend mit Sørensens Konzert für Soloakkordeon und Streichorchester, »It Is Pain Flowing Down Slowly On A White Wall« (2010), über Abrahamsens elfminütiges solistisches Titelstück (2006) und seine »Drei Kleinen Nocturnes« (2005) für Streichquartett und Akkordeon endet die Reise mit »Sigrids Wiegenlied« (2010), wiederum von Sørensen, das, ursprünglich ein Klavierstück, als einziges Werk dieser CD nicht eigens für Haltli komponiert wurde. Dieser Aufbau ist schlüssig, aber auch ambitioniert, denn die kürzeren und unmittelbarer eingängigen Stücke sind die vier kurzen im letzten Viertel. Wer mit der nicht so häufig zu erlebenden Verbindung aus Streichern und Akkordeon wenig vertraut ist, erhält mit diesen Werken und den Meisterinterpreten eine nachdrückliche Einladung, die Sinne zu öffnen und assoziationsreiche Stücke im Grenzbereich von Tradition und Avantgarde, von charmanten bis spröden Melodien und ungewohnter Klangpoesie zu erfahren. Während die beiden Soli für das Zu-Sich-Kommen in Form klarer und bewusster Reflexion sorgen, wagen sich die Streicherwerke extrovertiert in die großen Geschichten, in volle Farbspektren hinein.
Paul Griffiths lieferte gewohnt fokussierte und bereichernde Liner Notes, die weitaus besser als eine knappe Rezension in die Musik und die Aufnahmen einzuleiten vermögen. (ijb)
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