Une Meeles
(2016, Eigenverlag/Indigo)
Maarja Nuut kommt aus Estland, ist eine junge Sängerin und Violinistin und macht ganz alleine nur mit Stimme und Violine etwas wie minimalistischen Folk? Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Maarja Nuut ist beileibe nicht alleine – sie hat mehrere Violinen, denen sie Klänge entlockt, und sie hat ein paar elektronische Zauberkästchen, mit denen sie Loops und andere Klänge erzeugt und Naturklänge sammelt. Vor allem hat sie wohl eine riesige Schatztruhe, in denen ganz viele Ideen und kleine Melodien und größere Geschichten und große Geheimnisse nur darauf warten, von ihr herausgenommen und zusammengebastelt zu werden.
Es ist unfassbar, wie wenig Hilfsmittel nötig sind, um packende Musik zu kreieren. Packend kann hier im Wortsinne gelten, weil sich Maarja Nuuts Stimme im Ohr festsetzt, die Melodien – oft sind es eher Melodiefetzen – krallen sich in den Gehirnwindungen fest und kommen Stunden nach dem Hören wieder zum Vorschein. Oft reicht ein melodischer Gedanke für den ganzen Song. Die extrem einfachen Linien werden bis zur Hypnose wiederholt, selten waren drei Minuten so wirksam!
In den Texten transportiert Maarja Nuut estländische Märchen, Sagen und Geschichten aus ihrer Kindheit und aus noch viel weiter zurück liegenden Zeiten mit einfachsten Mitteln in die Gegenwart. »Hobusemäng« ist so ein Faszinosum: Ein Spiel aus Zeiten, wo Spielen noch viel mit Ritualen zu tun hatte. In diesem »Pferdespiel« singen Kinder im Kreis, darin befindet sich ein Pferd, das sich verlaufen hat. Nun kommt ein Wolf hinzu – er soll dem Pferd das Genick brechen. Das, so erklärte sie unlängst in DEUTSCHLANDRADIO KULTUR, baut einen Schutzmantel – das Spiel fungiert als Anti-Fluch: Je mehr Pferde sterben, desto besser geht es den real existierenden Pferden. Im Stück verkörpern verschiedene Melodielinien den Fortgang des Spiels.
Maarja Nuut holt uns in gewisser Weise aus der virtuellen Welt zurück in eine andere, archaische Welt voller Mystik. Bei ihr verschmelzen Realität und Traum. Mit beeindruckender Klarheit im Konzept, mit einer Stimme, die für sie mehr ist als Mittel zum Wort-Transport. Nämlich ein Instrument, ein ganz intimes Rhythmusinstrument. Diese Stimme und ein paar Violinen genügen Maarja Nuut zu einer grandiosen CD. (tjk)
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